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Relikte des Temporären
Zu den Arbeiten von Solweig de Barry
Wie transferiert sich die Flüchtigkeit eines gelebten Moments auf einen zweidimensionalen, statischen Bildträger? Welche Umrisse bleiben bestehen und welche verflüssigen sich durch den künstlerischen Prozess? Solweig de Barry modelliert das Temporäre eines Erlebnisses durch einen, für ihr Werk spezifischen, malerischen Abstraktionsprozess auf die Oberfläche ihrer Leinwände und Zeichenpapiere. Erinnerungen an alltägliche Erfahrungen und reale Situationen, die sich aus dem fotografischen Archiv der Künstlerin speisen, weichen innerhalb des Bildgrundes durch einen dynamischen Duktus auf und verflüchtigen sich. Oftmals bleiben konstruktive Elemente wie Striche und Muster als Skelette des Moments übrig, welche durch Farbflächen und gestische Pinsel- und Zeichenbewegungen auf weißem Grund vitalisiert werden. Das mittelgroße Bildformat ihrer Gemälde ermöglicht es der Künstlerin, während des Malaktes mit ihrem gesamten Körper in diesen ‚Abrieb‘ der Realität involviert zu sein. Zeichnerische Interventionen dienen ihr dabei als Vorstufe dieses Prozesses, während dem sie unterschiedliche Reduktionsstufen untersucht. Ähnlich einem klassischen Substraktionsverfahren in der Skulptur reduziert de Barry in einem gedanklichen Vorgang Schicht für Schicht der Ausgangsform – also in ihrem Fall der fotografischen Vorlage –, bis von dieser nur noch ein fragmentarischer Eindruck übrig bleibt. Doch was genau ist die abstrakte Essenz der Gegenwart, welche sich auf ihre Maluntergründe überträgt?
In Stadtwald (2019) wird der obere Bildrand von fünf breiten, schwärzlichen Farbbahnen belegt, die hinter einem grünlich-rosanen Geflecht am unteren Teil der Leinwand verschwinden. In geschwungenen, wilden Strichen wuchert das bunte Gebilde über die regelmäßigen Pinselsetzungen im Hintergrund hervor und umspielt dabei einen weißlichen Bereich. Die helle Farbfläche scheint als eine Art Lücke stehen geblieben zu sein, die während der malerischen Reduktion unbesetzt blieb. Die Abstraktion des fotografischen Ausgangsmotivs, das ein Kind vor einer Grünfläche in einer städtischen Umgebung zeigt, ist so weit vorangeschritten, dass nur noch gestisch gemalte Flächen, Linien und Farben des ursprünglichen Moments zurückbleiben. Die einzelnen Bildelemente formen dabei ein dreidimensional anmutendes neues Ensemble, das sich mit dem Bildträger zu verweben scheint.
Ähnliches passiert in der Arbeit Ohne Titel (2020), an dessen linkem Bildrand ein Getümmel aus olivgrünen, schnellen Pinselbewegungen von einer horizontalen, magentafarbenen Linienreihe überdeckt und unterbrochen wird. Im Zentrum der Leinwand befindet sich eine fragmentarische ovale Form, von der aus vier rote Linien in die oberen Bildecken ausstrahlen. Während in der fotografischen Vorlage noch eine Figur im Mittelpunkt der Aufnahme abgebildet ist, wird diese durch den malerischen Prozess reduziert. Klare Umrisse und Repräsentationen werden von unbestimmten, formlosen Farb- und Linienbündeln abgelöst.
In Ohne Titel (2019) hingegen überträgt die Künstlerin die ursprüngliche Fotografie direkter und figürlicher in das Medium der Malerei. Eine runde Struktur, die durch Streben gegliedert ist, lässt klare Assoziationen zu einem Rad zu; das sich darüber befindliche, diagonale Rohr ergänzt das Rad zu einer Kanone. Darauf platziert sind zwei Personen – eine braunhaarige, sich bückende, und eine kleinere Gestalt, die sich auf deren Rücken befindet. Im Hintergrund sieht man eine breite blaue Fläche. Sich abstrakt und ohne klare Umrisse horizontal über die Bildfläche ausbreitend, erinnert sie an eine weit entfernte Landschaft.
Solweig de Barry modelliert in ihren Arbeiten neue Welten. Mittels Substraktion zerlegt sie den Bildgegenstand sukzessive und verhandelt damit die Begrenzungen des ursprünglichen Bildmotivs und die ihm innewohnende Flüchtigkeit neu. Durch die radikale Reduktion von Perspektive, Bildaufbau und Realitätsnähe entwickelt die Künstlerin in der farbigen Flächigkeit der Formen und Linien so ein neues, immaterielles Abbild persönlicher Momente.
Sonja-Maria Borstner
Remains of ephemerality
On the work of Solweig de Barry
How can the ephemeral lived moment be transferred to a static and two-dimensional surface? Which outlines remain, and which become superfluous as a result of the artistic process? Solweig de Barry captures the fleeting nature of experience on paper and canvas, which undergoes a systematic abstraction that is unique to her work. Subjected to de Barry’s dynamic rendering, impressions of everyday experiences and real situations stored in the artist’s photographic archive gradually fade from the image surface before disappearing altogether. Often, structural elements such as brushstrokes and patterns remain. These remains of the lived moment are brought to life on white backgrounds by planes of colour as well as gestural brush strokes and sketch marks.
The medium-sized formats de Barry paints on invite the application of her whole body to this act of transferring reality to a pictorial surface. Sketch interventions serve as the preliminary stage, and it is while sketching that de Barry explores various levels of abstraction. Using a method reminiscent of the traditional subtractive process in sculpture, de Barry whittles the original image. Layer by layer, undergoing cerebral permutations, the photographic template is reduced until a faint impression is all that is left. But what exactly is this abstract essence of the present moment that de Barry transfers onto paper and canvas?
The top segment of Stadtwald (Street Forest; 2019) features five broad, blackish bars that disappear behind green and pink shapes at the bottom of the painting. This foreground of dynamic, sweeping strokes sprawls out over the regularity of the bars behind, skirting around an off-white area that seems to be a gap, a space on the canvas left blank during the artist’s subtractive process. The photographic image that served as the original motif – a child standing in front of a grassy area in an urban setting – is abstracted until all that is left of the initial moment is gesturally rendered shapes, lines and colour. The individual components of the painting form a new ensemble that appears three-dimensional and seems to meld with the surface.
A similar permutation happens in the painting Ohne Titel (Untitled; 2020). Here, starting at the left of the painting, an olive-green tumult fades out in rapid brushstrokes to the right. It is interrupted – partially covered – by a horizontal row of magenta lines. At the centre of the painting, a fragmented oval shape radiates four red lines to the upper corners of the canvas. The figure at the centre of the photograph that the painting draws on disappears during de Barry’s painting process. Clear outlines and shapes give way to indeterminate, amorphous clusters of colour and brush strokes.
In Fort Lagarde (2019), de Barry renders the original photograph in a more direct and figurative way. A round structure dissected by spokes is strongly reminscent of a wheel; a diagonal barrel above it completes the canon. de Barry places two figures on top of this structure: one has brown hair and leans forward over the barrel, the other is smaller and hangs from the back of the first. A wide blue surface can be seen stretching out behind them. Abstract and sweeping horizontally across the painting without clear outlines, it is reminscent of a distant landscape.
Solweig de Barry models new worlds in her paintings. Through the process of subtraction, the pictorial object undergoes a gradual deconstruction, renegotiating the limitations of the original image and its inherent impermanence. A radical abstraction of perspective, image composition and realistic representation culminate in coloured flatness of forms and lines, creating new and immaterial depictions of personal moments.
Sonja-Maria Borstner
Translation: Charlotte Wührer