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Paradies und Paradox
Fotografien alltäglicher Ereignisse und Eindrücke aus dem privaten Umfeld (spielende Kinder, ein Picknick, Zimmerpflanzen, Menschen zu Hause, im Stadtraum, „in der Natur“) bilden den Ausgangspunkt. Die Bilder, die wir am Ende sehen, sind jedoch keine bloßen Wiedergaben in einem anderen Medium, sondern etwas ihnen entwachsenes Neues, das gleichwohl eine Ähnlichkeit mit ihnen haben kann. Dazwischen liegt ein Prozess, an dessen Anfang das fertige Bild nicht abzusehen ist. Zuerst wird aus dem Ereignis Material – das Motiv wird gedanklich in seine Bestandteile zerlegt. Diese Distanzierung vom Erzählerischen ist Voraussetzung für Solweig de Barrys Arbeit. Ihre Bilder sind nach rein kompositorischen Kriterien gestaltete Rekonstruktionen einer möglichen Wahrnehmung des Ereignisses, des zuvor dekonstruierten fotografischen Dokuments.
Sie nimmt sich alle Freiheiten. Nur noch dem Bild verpflichtet und diesem folgend, wählt sie Elemente aus, die nun eine völlig andere Form annehmen, zu Farbflächen oder Strichen abstrahiert werden können. Auch die Farbe steht auf dem Prüfstand, Farbenlehre und Gespür werden befragt, bis etwas ins Schwingen kommt. Diese Übernahmen und Transformationen probiert die Künstlerin in Zeichnungen aus, die sie dialogisch mit dem Gemälde schafft. Aus ihnen wählt sie die in diesem Moment beste Lösung, die indes bereits im Übertragen wieder abgeändert werden kann. Schritt für Schritt beschreitet Solweig de Barry den gerade erst aus akademischen Wissen und unbewusst Entstehendem, aus Nachspüren und Steuern sich bildenden Weg. Intuition und Reflexion ziehen ihre ureigene Linie aus zwei Meinungen. Der in ihrem Denken zentrale Begriff der Linie macht ihre Nähe zur Zeichnung deutlich. So nutzt sie nicht die Möglichkeit der Malerei, Teile des Bildes zu verwerfen und zu überdecken. Der so wichtige Schöpfungsprozess bleibt sichtbar, der Weg ist das Bild, das Gemälde eine Zeichnung: Gebilde aus Linien und Flächen in die Leere hinein. Vieles bleibt weiß. Ihre Malweise unterstreicht dieses Unfertige. Die zuvor genau geplanten Pinselstriche setzt sie gestisch. Zu- und Unfälle, die dabei möglicherweise auftreten, sind durchaus erwünscht und können Wegweiser für den nächsten Schritt sein. Jede vermeintliche Unsauberkeit, jedes „hingeschmiert“ erscheinende Element (das neben einem der Vorlage entstammenden auch ein frei hinzuerfundenes sein kann) dient dem Ziel, das Bild an den Rand zu bringen, zum Gerade-noch-Figürlichen, zum Gerade-noch-Gleichgewicht, schon ein Schwanken.
Und so steht man vor scheinbar spontanen Wundern an Leichtigkeit – Ergebnis einer Arbeit, die stets dem Prinzip von Dekonstruktion und Rekonstruktion folgt. Diese Spielregel ist elementar; sie bewirkt, dass den Bildern, so weit die Transformation und Abstraktion auch fortgeschritten ist, durch ihr Wurzeln im tatsächlich Geschehenen eine Wahrhaftigkeit und Lebendigkeit innewohnt. Elementar ist auch das festgelegte „Spielfeld“ der Leinwand, innerhalb dessen Begrenzung sich’s entscheidet. Hier muss das Wunder geschehen, die labile Balance erzeugt werden. Die Offenheit der Darstellung führt die Gedanken darüber hinaus: Wohin laufen die Linien, wie sieht der Raum aus? Auch innerhalb des Bildes stellt sich diese Frage. Solweig de Barry lässt sehr viel weiße Flächen offen, deutet räumliche Situationen meist nur an. Man ist beim Betrachten selbst gefordert, imaginiert Räume, konstruiert das angedeutete Geschehen, kann dabei etwas ganz anderes sehen als die Künstlerin. Auch das ist gewollt, die Bilder sind autonom. Durch die fragmentarische, gestische Malweise scheinen sie in ihrer flüchtigen Anmutung näher an einer erlebten Realität des Augenblicks zu sein als die ihn dokumentierende Fotografie. In Wirklichkeit aber sind sie davon viel weiter entfernt, nämlich pures Kunstwerk, intellektuelles Konstrukt.
All diese inneren und äußeren Gegensätze, die Solweig de Barrys Arbeiten kennzeichnen, machen die Beschäftigung mit ihnen so enorm spannend und erfreuend. Es seien hier keine Bilder aufgedröselt. Im übertragenen Sinn gilt den Betrachtenden Hölderlins Einladung an Landauer, Komm! Ins Offene, Freund!
Jörg Hennings
Relikte des Temporären
Zu den Arbeiten von Solweig de Barry
Wie transferiert sich die Flüchtigkeit eines gelebten Moments auf einen zweidimensionalen, statischen Bildträger? Welche Umrisse bleiben bestehen und welche verflüssigen sich durch den künstlerischen Prozess? Solweig de Barry modelliert das Temporäre eines Erlebnisses durch einen, für ihr Werk spezifischen, malerischen Abstraktionsprozess auf die Oberfläche ihrer Leinwände und Zeichenpapiere. Erinnerungen an alltägliche Erfahrungen und reale Situationen, die sich aus dem fotografischen Archiv der Künstlerin speisen, weichen innerhalb des Bildgrundes durch einen dynamischen Duktus auf und verflüchtigen sich. Oftmals bleiben konstruktive Elemente wie Striche und Muster als Skelette des Moments übrig, welche durch Farbflächen und gestische Pinsel- und Zeichenbewegungen auf weißem Grund vitalisiert werden. Das mittelgroße Bildformat ihrer Gemälde ermöglicht es der Künstlerin, während des Malaktes mit ihrem gesamten Körper in diesen ‚Abrieb‘ der Realität involviert zu sein. Zeichnerische Interventionen dienen ihr dabei als Vorstufe dieses Prozesses, während dem sie unterschiedliche Reduktionsstufen untersucht. Ähnlich einem klassischen Substraktionsverfahren in der Skulptur reduziert de Barry in einem gedanklichen Vorgang Schicht für Schicht der Ausgangsform – also in ihrem Fall der fotografischen Vorlage –, bis von dieser nur noch ein fragmentarischer Eindruck übrig bleibt. Doch was genau ist die abstrakte Essenz der Gegenwart, welche sich auf ihre Maluntergründe überträgt?
In Stadtwald (2019) wird der obere Bildrand von fünf breiten, schwärzlichen Farbbahnen belegt, die hinter einem grünlich-rosanen Geflecht am unteren Teil der Leinwand verschwinden. In geschwungenen, wilden Strichen wuchert das bunte Gebilde über die regelmäßigen Pinselsetzungen im Hintergrund hervor und umspielt dabei einen weißlichen Bereich. Die helle Farbfläche scheint als eine Art Lücke stehen geblieben zu sein, die während der malerischen Reduktion unbesetzt blieb. Die Abstraktion des fotografischen Ausgangsmotivs, das ein Kind vor einer Grünfläche in einer städtischen Umgebung zeigt, ist so weit vorangeschritten, dass nur noch gestisch gemalte Flächen, Linien und Farben des ursprünglichen Moments zurückbleiben. Die einzelnen Bildelemente formen dabei ein dreidimensional anmutendes neues Ensemble, das sich mit dem Bildträger zu verweben scheint.
Ähnliches passiert in der Arbeit Ohne Titel (2020), an dessen linkem Bildrand ein Getümmel aus olivgrünen, schnellen Pinselbewegungen von einer horizontalen, magentafarbenen Linienreihe überdeckt und unterbrochen wird. Im Zentrum der Leinwand befindet sich eine fragmentarische ovale Form, von der aus vier rote Linien in die oberen Bildecken ausstrahlen. Während in der fotografischen Vorlage noch eine Figur im Mittelpunkt der Aufnahme abgebildet ist, wird diese durch den malerischen Prozess reduziert. Klare Umrisse und Repräsentationen werden von unbestimmten, formlosen Farb- und Linienbündeln abgelöst.
In Ohne Titel (2019) hingegen überträgt die Künstlerin die ursprüngliche Fotografie direkter und figürlicher in das Medium der Malerei. Eine runde Struktur, die durch Streben gegliedert ist, lässt klare Assoziationen zu einem Rad zu; das sich darüber befindliche, diagonale Rohr ergänzt das Rad zu einer Kanone. Darauf platziert sind zwei Personen – eine braunhaarige, sich bückende, und eine kleinere Gestalt, die sich auf deren Rücken befindet. Im Hintergrund sieht man eine breite blaue Fläche. Sich abstrakt und ohne klare Umrisse horizontal über die Bildfläche ausbreitend, erinnert sie an eine weit entfernte Landschaft.
Solweig de Barry modelliert in ihren Arbeiten neue Welten. Mittels Substraktion zerlegt sie den Bildgegenstand sukzessive und verhandelt damit die Begrenzungen des ursprünglichen Bildmotivs und die ihm innewohnende Flüchtigkeit neu. Durch die radikale Reduktion von Perspektive, Bildaufbau und Realitätsnähe entwickelt die Künstlerin in der farbigen Flächigkeit der Formen und Linien so ein neues, immaterielles Abbild persönlicher Momente.
Sonja-Maria Borstner
Paradise and Paradox
Photographs of everyday moments and personal impressions (children playing, a picnic, houseplants; people at home, in the city or in nature) are the starting point. Far from reiterations in another medium, the resulting paintings develop beyond their source material, maintaining a loose resemblance. In the transitional space that is the artistic process, the destination cannot be foreseen. First, the event must become material as the motif is deconstructed into its component parts. Such distancing from any sense of narrative is integral to Solweig de Barry's work. Her paintings are concerned instead with engaging modes of perceiving an event via compositional strategies that vaguely reassemble deconstructed photographic documentation.
She is uninhibited. Committed only to following form, she traces shapes that shift into abstracted marks and swathes of color. She also takes color itself to task: interrogating the tension between color theory and gut feeling until something clicks. This practice of transfer and transformation also informs the artist’s drawings, which exist in close dialogue with her painting. Moving between mediums and images, she chooses the best solution for each given moment, knowing that things will change again in the process. Step by step, Solweig de Barry charts her own path, drawing on histories of painting and a subconscious guidance to find her way. Intuition and reflection draw their own Line of Two Opinions. The centrality of the line in her practice underscores her close connection to drawing. In this vein, painting is not a way of obscuring parts of the picture plane. On the contrary, the crucial role of the process itself remains visible. The path is the painting, as the painting is the drawing. A structure of line and surface across the void. White space persists. Her approach emphasizes an unfinished quality. Precisely applied brushstrokes give way to gesture. Traces of accident and chance become welcome interruptions that orient the development of the painting. Every apparent smudge or scribble (whether premeditated or spontaneous) is an element in the drive to bring the painting to the edge. To somewhere just discernible, almost balanced, insistently unresolved.
And so one encounters a seemingly spontaneous and wondrous levity–itself the result of work committed to principles of deconstruction and reconstruction. The rules of the game are simple. And while they are transformed through an abstracting process, the paintings’ roots in lived experience remain palpable through a sense of an inherently true life force that courses through them. The boundaries of the canvas are also a simple playground. This is the zone in which decisions are made, where the miraculous happens, where an unstable balance finds its footing. The open-endedness of these spacious compositions prompts musings as to where these lines might lead, or what that place they continue to would look like. Such questions also arise within the confines of the canvas, as Solweig de Barry leaves blank, white space, only hinting at spatial situations. She leaves it to the viewer to imagine points of connection, to reconstruct implied events, to see something entirely their own. Such a deliberate and open invitation resonates with the autonomy of the paintings themselves. The fleeting impressions produced by their fragmentary and gestural nature get closer to the experience of reality than any photograph can. They are, on the other hand, also far from reality: pure painting, intellectual construct.
The layers of contradictions that characterize Solweig de Barry's work are what makes it so exciting and gratifying to engage. No pictures will be unraveled here. One could borrow Hölderlin's call to Landauer, Come! Out in the open, my friend!
Jörg Hennings
Translation: Camila McHugh Barshee
Remains of ephemerality
On the work of Solweig de Barry
How can the ephemeral lived moment be transferred to a static and two-dimensional surface? Which outlines remain, and which become superfluous as a result of the artistic process? Solweig de Barry captures the fleeting nature of experience on paper and canvas, which undergoes a systematic abstraction that is unique to her work. Subjected to de Barry’s dynamic rendering, impressions of everyday experiences and real situations stored in the artist’s photographic archive gradually fade from the image surface before disappearing altogether. Often, structural elements such as brushstrokes and patterns remain. These remains of the lived moment are brought to life on white backgrounds by planes of colour as well as gestural brush strokes and sketch marks.
The medium-sized formats de Barry paints on invite the application of her whole body to this act of transferring reality to a pictorial surface. Sketch interventions serve as the preliminary stage, and it is while sketching that de Barry explores various levels of abstraction. Using a method reminiscent of the traditional subtractive process in sculpture, de Barry whittles the original image. Layer by layer, undergoing cerebral permutations, the photographic template is reduced until a faint impression is all that is left. But what exactly is this abstract essence of the present moment that de Barry transfers onto paper and canvas?
The top segment of Stadtwald (Street Forest; 2019) features five broad, blackish bars that disappear behind green and pink shapes at the bottom of the painting. This foreground of dynamic, sweeping strokes sprawls out over the regularity of the bars behind, skirting around an off-white area that seems to be a gap, a space on the canvas left blank during the artist’s subtractive process. The photographic image that served as the original motif – a child standing in front of a grassy area in an urban setting – is abstracted until all that is left of the initial moment is gesturally rendered shapes, lines and colour. The individual components of the painting form a new ensemble that appears three-dimensional and seems to meld with the surface.
A similar permutation happens in the painting Ohne Titel (Untitled; 2020). Here, starting at the left of the painting, an olive-green tumult fades out in rapid brushstrokes to the right. It is interrupted – partially covered – by a horizontal row of magenta lines. At the centre of the painting, a fragmented oval shape radiates four red lines to the upper corners of the canvas. The figure at the centre of the photograph that the painting draws on disappears during de Barry’s painting process. Clear outlines and shapes give way to indeterminate, amorphous clusters of colour and brush strokes.
In Fort Lagarde (2019), de Barry renders the original photograph in a more direct and figurative way. A round structure dissected by spokes is strongly reminscent of a wheel; a diagonal barrel above it completes the canon. de Barry places two figures on top of this structure: one has brown hair and leans forward over the barrel, the other is smaller and hangs from the back of the first. A wide blue surface can be seen stretching out behind them. Abstract and sweeping horizontally across the painting without clear outlines, it is reminscent of a distant landscape.
Solweig de Barry models new worlds in her paintings. Through the process of subtraction, the pictorial object undergoes a gradual deconstruction, renegotiating the limitations of the original image and its inherent impermanence. A radical abstraction of perspective, image composition and realistic representation culminate in coloured flatness of forms and lines, creating new and immaterial depictions of personal moments.
Sonja-Maria Borstner
Translation: Charlotte Wührer